Analysis No. 2
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Deutsch
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Ich weiß nicht sicher, ob ich tatsächlich psychisch krank bin (siehe Analysis No. 1: Bin ich psychisch krank?). Ich habe keine offizielle Diagnose. Und deshalb streiten sich in meinem Kopf stets zwei mögliche Interpretationen meiner selbst: Entweder ich habe eine generalisierte Angststörung und eine Depression – oder aber ich bin einfach nur ein schlechter Mensch. Mein Verhalten (wie wenn ich morgens stundenlang nicht aus dem Bett komme) ist entweder das Symptom einer psychischen Krankheit – oder lediglich Ausdruck meiner charakterlichen Schwächen (hier wohl Faulheit). Während sich das Grübelmonster in meinem Kopf ohne externe Bestätigung haltlos im Kreis dreht bei seinem Versuch herauszufinden, welche der beiden Interpretationen der Wahrheit entspricht, habe ich natürlich ständig Angst, dass es am Ende die negativere der beiden sein könnte: dass ich nicht krank, sondern ein schlechter Mensch bin. Dies hat fatale Folgen für die Phasen, in denen es mir besser geht.
Hochs und Tiefs
Meine Stimmung verläuft in Wellen: In den schlechten Phasen ist sie niedrig, ich fühle mich energie- und antriebslos, alles fällt mir wahnsinnig schwer und selbst Kleinigkeiten überfordern mich sofort. Ich mache mir ununterbrochen Sorgen und das Grübelmonster seinem Namen alle Ehre. Aber es gibt tatsächlich auch Phasen, in denen es mir besser geht, in denen ich aktiver bin, mir (zumindest ein bisschen) weniger Sorgen mache und vor allem hoffnungsvoller in die Zukunft blicke. Leider sind diese Phasen meist deutlich kürzer, maximal ein paar Wochen – dann folgt die nächste Talfahrt, welche üblicherweise wiederrum ein paar Monate anhält. Mein Erleben dieser Hoch- Und Tiefphasen ist beinahe dissoziativ: Während der schlechten Phasen kann ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen, dass es mir jemals wieder besser gehen wird. Und während der guten Phasen verliere ich umgekehrt rasch das Gefühl für die schlechten Phasen. Sie wirken dann wie ein entfernter schlechter Traum, an den ich mich nur noch abstrakt erinnern kann. Und ich vergesse vor allem, wie schlecht es mir damals ging.
Es geht mir doch eigentlich gut
Diese Berg- und Talfahrt meiner Stimmung bleibt bei meiner Grübelei darüber, ob ich nun tatsächlich psychisch krank bin, natürlich nicht unbeachtet. Und säht Zweifel: Wenn ich wirklich krank wäre, wenn ich wirklich eine Depression hätte, müsste es mir dann nicht immer schlecht gehen? Sind die guten Phasen also eine Evidenz, ein Beleg dafür, dass die zweite Interpretation (der zufolge ich einfach nur einen schlechten Charakter habe) der Wahrheit entspricht? Die kritische Stimme in meinem Kopf flüstert (und wird dabei immer lauter): Siehst du? So schlecht geht es dir doch eigentlich gar nicht. Was stellst du dich nur immer so an? Es geht dir doch ganz gut! Und ich habe dem nichts entgegenzusetzen – weil es mir ja grade wirklich ganz gut geht und die Erinnerung an die letzte schlechte Phase schon verblasst ist (ach, so schlimm war es ja gar nicht).
Scham
Während ich also in den guten Phasen keine rechte Vorstellung mehr davon habe, wie ich mich in den schlechten Phasen gefühlt habe, erinnere ich mich aber sehr wohl noch daran, wie ich mich verhalten habe: Ich habe meine Arbeit vernachlässigt, Treffen mit Freunden und Familie abgesagt, eigentlich einfache Aufgaben auf Andere abgeschoben und war insgesamt keine sehr spaßige Gesellschaft für die Menschen um mich herum. Weil es mir grade aber wieder einmal einigermaßen gut geht, wächst die Überzeugung, dass dieses Verhalten eben nicht das Symptom einer psychischen Krankheit war, sondern einfach nur der Ausdruck meines schlechten Charakters: Ich war nicht damit überfordert an meiner Dissertation zu schrieben, sondern ich war einfach nur zu faul. Ich hätte die Familienfeier natürlich überstanden, ich war nur egoistisch und wollte lieber zuhause bleiben und Videospiele spielen. Diese „Erkenntnis“ rüttelt nicht nur an meinem während der schlechten Phasen aufgebauten Selbstbild (dass ich jemand bin, der unter einer psychischen Krankheit leidet), sondern sie greift auch mein (ohnehin schon schwaches) Selbstwertgefühl an – denn wer gesteht sich schon gerne ein, dass er ein schlechter Mensch ist? Und sie löst eine gigantische Menge von Scham aus. Ich schäme mich für mein Verhalten, dafür, wie ich andere behandelt habe, dafür, wie wenig ich in dieser Phase zustande gebracht habe.
Und noch mehr Scham
Und ich schäme mich nicht nur dafür. Denn, je stärker meine Überzeugung wird, dass ich tatsächlich nicht psychisch krank bin, desto mehr schäme ich mich auch dafür, dass ich es jemals geglaubt habe – und noch mehr dafür, dass ich es andere Menschen habe glauben machen. Während Andere wirklich unter einer Depression leiden, habe ich eine solche erfunden, um mich vor meiner Arbeit oder anderen unangenehmen Aufgaben zu drücken. Damit nicht genug, ich habe auch gegenüber anderen Menschen behauptet unter einer psychischen Krankheit zu leiden und habe dadurch nicht nur Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme, sondern oft auch ganz praktische Hilfestellungen erhalten. Ich habe mir durch das Vorspiegeln einer Depression einen Vorteil verschafft. Wie verdorben kann man nur sein? Ich fühle mich wie ein Hochstapler. Deshalb geht es mir schlechter, wenn es mir besser geht. Weil ich, wenn es mir besser geht, anfange zu glauben, dass es mir eigentlich nie schlecht ging.
Zwang zur Wiedergutmachung
Ein Effekt von all der Scham über mich und mein Verhalten ist, dass ich für mein zukünftiges Verhalten nun hohe Maßstäbe ansetze: Ich muss wiedergutmachen, was ich verbockt habe. Ich muss alles besser machen. Mehr arbeiten, netter zu meinen Freunden und meiner Familie sein, weniger um mich selbst und meine Bedürfnisse kreiseln und mich insgesamt nicht so wichtig nehmen. Da ich aber ohnehin schon zum Perfektionismus neige (dazu mehr an derer Stelle), werden diese Ansprüche an mich selbst schnell absurd hoch. Das Scheitern ist vorprogrammiert (zumal die nächste schlechte Phase ohnehin nur eine Frage von Wochen ist).
Wunsch nach Verschlechterung
Ein zweiter (meiner Meinung nach) weit problematischerer Effekt ist jedoch, dass ich während der guten Phasen sehr schnell anfange mir zu wünschen, dass es mir wieder schlechter geht. Weil das mein neu gewonnenes – ausgesprochen negatives – Selbstbild wieder in Frage stellen würde. Weil das bedeuten würde, dass ich vielleicht doch krank bin. Dass ich vielleicht doch kein so schrecklicher Mensch bin. Mit diesem Wunsch nach Verschlechterung geht dann aber natürlich jedes positive Momentum für die Verbesserung meiner psychischen Gesundheit, das ich während den Phasen, in denen es mir etwas besser geht, sonst vielleicht hätte gewinnen können, vollends verloren. Und nicht nur das: Wenn es mir dann tatsächlich wieder schlechter geht, kann ich dem nicht einmal trauen. Stattdessen befürchte ich, dass ich nur versuche meinen eigenen Wunsch nach Verschlechterung zu erfüllen, dass ich mich in meine schlechte Stimmung nur hineinsteigere, um der Erkenntnis zu entkommen, dass ich – in Wirklichkeit – ein furchtbarer Mensch bin.
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Danke fürs Lesen <3
Mehr darüber, auf welch verquere Weise ich mich für meine psychischen Probleme schäme, findet sich in Analysis No. 3: Sham und psychische Erkrankungen.
Und in Analysis No. 4: Auf und Ab beschreibe ich einige weitere Nachteile des wellenförmigen Verlaufs meiner Grundstimmung.
Zu guter Letzt möchte ich auf die folgenden Gedanken in Zukunft genauer eingehen:
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Warum die Depression in meinen hier beschriebenen Selbstzweifeln zentraler ist, als die Angststörung.
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Warum es neben schlechten Phasen auch noch akute Krisen gibt.
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English
I do not know for sure whether I am actually mentally ill (see Analysis No. 1: Am I mentally ill?). I have not been officially diagnosed. And because of that, my head is the constant battleground of two very different interpretations of myself: Either I am suffering from a generalized anxiety disorder and depression – or I am merely a bad person. My behavior (like when I cannot get out of bed for hours) is either a symptom of mental illness – or the expression of my character flaws (in this case probably laziness). Without any kind of external confirmation, the Gruebelmonster in my head is constantly spinning in circles in its attempt to discern which of those two interpretations captures the truth. Meanwhile, I am permanently worried that it might be the negative one: that I might not be ill, but just a bad person. This has unfortunate consequences for the times in which I am feeling better.
Ups and downs
My general mood has ups and downs: In the bad times it is very low – I lack energy and motivation, everything feels incredibly difficult, and even the smallest things overwhelm me easily. I am constantly worrying and the Grübelmonster is really living up to its name. But there are also times in which I feel better, in which I am more active, worry (at least a bit) less, and – most importantly – have a more hopeful outlook into the future. Unfortunately, these periods are usually much shorter, lasting a few weeks at most – just to be followed by the next low, which in turn usually lasts for a few months. My experience of these ups and downs is almost dissociative: During the bad times I cannot even imagine ever feeling better again. And during the better times I quickly lose the feeling for the bad times. They then seem like a distant nightmare which I can only remember in abstract terms. And – most of all – I tend to forget how bad I was feeling back then.
I am actually doing just fine
This up and down of my mood is of course not overlooked by my constant rumination about whether I am actually mentally ill. And it spreads doubt: If I was really ill, if I really had depression, should I not be feeling bad all the time? Are the good periods hence evidence that the second interpretation (according to which I simply have a bad character) captures the truth? The critical voice in my head whispers (at increasing volume): See? You’re not actually doing all that badly. What are you always fussing about? You’re doing just fine! And I cannot really offer any reply – since currently I am indeed feeling quite okay and my memory of the last bad period has already faded (oh well, it wasn’t all that bad).
Shame
While, during the good times, I thus lose grip on how I felt during the bad times, I very well remember how I behaved: I neglected my work, cancelled on friends and family, pushed even the smallest tasks off to others, and generally was not very pleasant company. But because I am currently actually feeling quite okay, I grow increasingly convinced that this behavior was not the symptom of a mental illness, but rather an expression of my character flaws: I was not overwhelmed by my dissertation but merely too lazy. I could of course have made it through the family gathering – I was just being selfish and rather wanted to stay at home and play video games. This “realization” does not only shake up the self-image I have created during the bad times (being someone who suffers from mental illness), but it furthermore threatens my (already low) feeling of self-worth – because who likes to admit to themselves that they are a bad person? And it triggers a gigantic amount of shame. I feel ashamed of my behavior, of how I treated those around me, and of how little I accomplished during that bad period.
And more shame
But that’s not all I’m ashamed of. The stronger my conviction grows that I am actually not mentally ill, the more I feel ashamed for having ever believed that I was – and, even worse, having made others believe this too. For one thing, while other people are really suffering from depression, I made it up, just so that I could shirk my work or other unpleasant tasks. For another, in claiming to be mentally ill, I won others’ attention and care as well as plain practical help. I reaped personal benefits by pretending to suffer from mental illness. How foul is that? I feel like an imposter. That is why I feel worse when I feel better. Because I, when feeling a bit better, start believing that I was actually never feeling bad.
Urge to make it up
One effect of all that shame about my past behavior is that I put up very high standards for my future behavior: I have to make up for what I screwed up before. I have to do better. Work more, be nicer to my friends and family, focus less on myself and my needs, and in general be less full of myself. But since I already lean towards perfectionism (more on that elsewhere), these self-inflicted standards quickly grow ridiculously high. Failure is inevitable (especially since the next low is just a matter of weeks away).
Wish to feel worse again
A second and (in my opinion) even more problematic effect is that – during the good times – I very quickly start to wish that I would feel worse again. Because that would undermine my newly found and particularly negative self-imagine. Because that would mean that I might be mentally ill after all. And not the horrible kind of person I now take myself to be. With this wish to feel worse again I obviously lose any positive momentum for improving my mental health that I maybe could have summoned up during this period in which I am feeling a bit better. Moreover, once I actually feel worse again, I cannot even trust those feelings. Instead, I worry that I am now merely trying to fulfill my own desire, working myself up into this bad mood to evade the sad truth that I am – in reality – just a bad person.
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Thank you for reading <3
More about the strange way in which I feel ashamed for my mental health issues can be found in Analysis No. 3: Shame and mental illness.
And in Analysis No. 4: Up and Down I describe some further downsides to the wave-like shifts in my general mood.
Finally, in the future I would like to expand on the following questions:
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Why depression is more central to my self-doubts expressed in this post than anxiety.
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Why there are not only bad periods but also acute crisis.
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Interested?
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